Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Leïla Slimani

Dann schlaf auch du

Buchcover

Seit geraumer Zeit bin ich süchtig nach französischer Belletristik. Nach und nach lese ich die Gewinner des Prix Goncourt. So kam ich auf den kurzen Roman Dann schlaf auch du von Leïla Slimani.

Bis zur Lektüre dieses aussergewöhnlichen Buches hätte ich es nicht für möglich gehalten, mich in eine Frau einfühlen zu können, die zwei kleine Kinder getötet hat. Der Gedanke erschien mir sehr befremdend. Leïla Slimani aber hatte den Mut, in die Einsamkeit und Entfremdung einer solchen Frau einzutauchen und den Weg zur Tat mit scharfem Blick und in einem hohen Tempo zu schildern.

Es ist die Einsamkeit einer Arbeitsmigrantin, die allein Wertschätzung als perfekte Nanny für eine gutmeinende junge Familie aus dem Pariser Mittelstand erfährt. Louise erfüllt diese Rolle mit einer allseits bewunderten Perfektion, so dass sie zu glauben beginnt, sie könne ein Teil der Familie werden. Sie steigert sich in diesen Gedanken hinein, ihre ganze Phantasie ist davon beherrscht und Ausdruck einer unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsucht. Aber der Preis ist die Selbstaufgabe und dieser Preis ist hoch.

Das größere der beiden Kinder, noch im Vorschulalter, spürt die Fassade ihrer geliebten Louise und entblößt sie. Das Kind wird zur paradoxen Bedrohung. Louise antwortet mit subtiler Gewalt, die sie als Nähe tarnt. Die Fassade beginnt zu bröckeln. Sie leidet unter Panikattacken und entfremdet sich zunehmend von der Familie, deren Mitglied sie zu sein wünscht. Alles was ihr fragiles Selbstbild zusammenhält, droht wegzubrechen. Einsam in der großen Stadt überwältigen sie Rachegefühle, die in kalte Verzweiflung münden. Ich dachte am Ende, ich habe in die Seele einer Amokläuferin geschaut. Zudem überall Indizien und Hinweise in diesem Roman, dass die Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt.

Ich bewundere Leïla Slimani für ihr aussergewöhnliches Einfühlungsvermögen. Ich blieb nachdenklich zurück mit diesem Buch und seiner erschütternden Relevanz.

Ralph Segert ° 18. März 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur