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Leïla Slimani

All das zu verlieren

Buchcover

Was ist das, was uns, obwohl wir scheinbar alles haben, so unzufrieden macht? Woher kommt die Leere, die mit keinem Konsumgut, keinem Geld, keiner Macht und keiner Selbstoptimierung zu füllen ist?

In Leïla Slimanis Roman All das zu verlieren steht die Protagonistin Adèle genau vor diesen Fragen und weiss lange keine Antwort. Sie leidet an Sexsucht, in der sie die Erniedrigung sucht. Das wird ihr beinahe zum Verhängnis, als sie auf einen brutalen Mann trifft, eine Zufallsbekanntschaft. Er wird zur Gefahr für ihr Leben und die hautnah erfahrene Gefahr markiert den Wendepunkt, öffnet ihr so weit die Augen, dass sie sieht, was sie hat: Eine gesicherte bürgerliche Existenz. Einen kleinen Sohn, der sie braucht. Einen Mann, der an ihrer Seite steht. All das zu verlieren, das wird ihr allmählich bewusst.  

Der Roman verweist auf Möglichkeiten, die Adèle und ihr Mann im Miteinander haben. Selbst in der unheilvollen Zerrissenheit, in der Adèle gefangen ist, hat und nutzt sie die Freiheit, sich zu entscheiden: Für ein gegenseitiges Vertrauen und Anvertrauen, für Gespräche und Aufrichtigkeit, für Respekt und die Wertschätzung der freien Zeit, die sie hat und sich endlich nimmt, um neue Menschen und die Ruhe in der Natur kennenzulernen. Wertvolle Zeit des Verschnaufens, die sich die privilegierte Adèle nimmt. Ob das zur Heilung führt, bleibt offen. Die Antwort liegt in ihr selbst.

Leïla Slimani hat mit diesem Werk schon vor ihrem preisgekrönten Roman Dann schlaf auch Du gezeigt, wie nah und klarsichtig sie dem zerrissenen Menschen kommt, der so verloren unter sich selbst leidet, dass er dem Sog der Selbstzerstörung nur knapp oder nicht zu entkommen vermag.

Ralph Segert ° 20. März 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur