Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

Home  ·  Projekt  ·  Sideblog  ·  Archiv  ·  RSS  ·  Newsletter

Sorj Chalandon

Mein fremder Vater

Buchcover

Nachdem ich den Roman Am Tag davor von Sorj Chalandon gelesen hatte und aus der Begeisterung gar nicht mehr herauskam, war ich gespannt auf sein vorheriges Buch, das 2017 bei DTV erschienen ist. Ein Roman, der mich getroffen und gefordert hat.

Der Roman Mein fremder Vater brachte mich als Leser nah an die Grenze dessen, was ich beim Lesen bereit bin auszuhalten. Die beschriebenen Demütigungen des Jungen Émile haben mich zum Weinen gebracht, weil sie mich an eigene Verletztungen erinnerten. Sein paranoider und größenwahnsinniger Vater, eine Art Trump der kleinen Leute, bestraft, belügt und benutzt den Jungen mit einer von beiden Seiten nie hinterfragten Selbstverständlichkeit. Der Vater wird dabei keineswegs angeklagt, sondern als Gefangener seiner Entwurzelung und der sozialen Ausgrenzung gezeigt. Das ist die große Kunst Chalandons, nämlich sein autobiografisches Leid nicht in Anklage und Denunziation des Vaters münden zu lassen.  

Die Gewalt gegen den Jungen nimmt im ersten Teil des Buches einen großen Raum ein. Just an den Stellen, an denen ich dachte, das Elend ist genug beschrieben, mir reicht das jetzt, findet Sorj Chalandon die Kurve und treibt seine Geschichte mit einem spannenden Plot voran, an dessen Ende eine Selbstrettung steht. Ich begriff zudem einmal mehr, was für ein Glück es ist, seine Kinder und Nächsten lieben zu können. Und darin steckt ein weiteres Wunder, nämlich dass wir diese Liebe lernen können, auch wenn wir sie in unserer Kindheit nicht erfahren haben.

Ralph Segert ° 18. März 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur

  • Buchlink zum Verlag:   DTV
  • Mehr zum Thema:   Am Tag davor
  • Übersetzt von Brigitte Große