Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Sorj Chalandon

Am Tag davor

Buchcover

Manchmal kommen Bücher mit etwas Glück zu mir. Als Am Tag davor im Literarischen Quartet überschwenglich gelobt wurde, dachte ich, dass ich es wohl nicht lesen werde. Bergarbeitergeschichten ziehen mich nicht sonderlich an, vielleicht weil ich als Ruhrgebietskind bereits auf "Kohle geboren" und genug Geschichten gehört hatte.

Aber schließlich stand ich im Buchladen vor dem Buch und las die erste Seite. Der Rhythmus, die Schlagzahl der Sätze, gleich im ersten Absatz. Eine Entscheidung war schnell gefallen. Und so las ich und war gleich in einen Bann gezogen, tauchte ein in die Welt nie gedankter Arbeit und Opfer, erlebte mit den Menschen in dieser Geschichte die langsame Zerstörung einer Arbeiterkultur und dem bitteren Ende dieser, das bis heute nachwirkt. Und der Held, er blieb unerträglich stumm nach einem misslungenen Verbrechen und seiner Verhaftung. Aber rede doch endlich, warum redest Du nicht, fragte ich mehr als einmal ins Buch, um zum Ende hin zweimal überrascht zu werden, fassungslos danach, staunend, sprachlos, kopfschüttelnd. Und dann die Erkenntnis wie ein Schlag in den Nacken, warum das lange, quälende Schweigen notwendig war.

Ein Buch, das Schuldgefühlen und verleugneten Schmerz nachspürt. Schmerz und Schuld eingebettet in die sozialen Kontexte, miteinander verwoben, das eine undenkbar ohne das andere. Lange noch trug ich das Buch in meinem Herzen, spürte das Bedürfnis, es zig Mal zu verschenken und noch einmal zu kaufen, um ja ein Exemplar für einen literaturbegeisterten Menschen zu haben.

Ralph Segert ° 15. März 2020 ° Rubrik