Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Ulla Lenze

Der Empfänger

Buchcover

In einer Rezension über den Roman Der Empfänger von Ulla Lenze las ich, dass die Hauptfigur ein rückgratloser "Nazi-Mitläufers" sei. Und obwohl mich das zuerst abschreckte, bestellte ich mir das Buch bei dem Buchhändler meines Vertrauens und bereute das nicht.

Der Empfänger erzählt die Geschichte von Josef Klein. Er lebt als deutscher Auswanderer in New York, arbeitet als Drucker und ist ein leidenschaftlicher Amateurfunker. Er verstrickt sich ohne böse Absichten in die Machenschaften der New Yorker Nationalsozialisten und gerät zwischen die Fronten der Kriegsparteien. Mit viel Glück entkommt er der Todesstrafe als Landesverräter und wird aus den USA ausgewiesen. Josef Klein landet 1949 bei seinem Bruder Carl und dessen Familie in Neuss und schnell wird ihm klar, dass er in Deutschland nicht bleiben will.

Ulla Lenze erzählt kompakt und ohne Umschweife (ich liebe diesen Erzählstil, der viel mit wenigen Worten sagt). Sie läßt uns Leser eintauchen in die Atmosphären verschiedener Zeiten und Orte: In das quicklebendige, gefährliche, sich radikalisierende Leben in New York von 1939 auf der einen Seite. Auf der anderen (wie ein konträres Bild dagegen) die Welt seines Bruders im noch von Trümmern gekennzeichneten Deutschland von 1949: Eine steife, schweigende, mental festgezurrte Welt mit verklemmten Kindern und Erwachsenen, die Erdulden und Ertragen bis zur Selbstaufgabe erlernt haben und dies auch nach dem Krieg weiterleben. Auf wenigen Seiten läßt Ulla Lenze diese Atmosphäre der Enge auferstehen und zeigt zudem, dass das nicht die Welt eines Josef Klein sein kann, der die Weite der Funkwellen, der die Ruhe der Natur und die Lebendigkeit New Yorks liebt. Er hat trotz oder gerade wegen seiner gefährlich gewordenen Unentschlossenheit, trotz seiner Spionagetätigkeit als Doppelagent wider Willen seine Lebendigkeit und seine Träume nicht verloren und ist auch nicht bereit, sie aufzugeben für eine trügerische Sicherheit. Insofern ist er alles andere als ein "Mitläufer" ohne Verantwortungsgefühl, keiner, der immerzu wegschaut, das Unrecht duldet und Unrecht tut. Nein, Josef Klein ist im Gegenteil ein Held des Alltags in einer Zeit der Extreme, ein faszinierender Mensch, der mit viel Mut in eine neue Welt eintauchte  und daraus (natürlich) nicht ohne Schuld und unbeschadet wieder auftauchen konnte.

Fazit: Der Empfänger ist ein tolles Leseabenteuer mit spannenden Einblicken in die Welt der Einwanderer und der sozialen Schichten in New York der 30er Jahre. Alltagsgeschichte, Geschichte von unten, aus einem beeindruckenden Einzelschicksal auferstanden, dank Ulla Lenze.

Ralph Segert ° 07. Juli 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur