Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

Home  ·  Projekt  ·  Sideblog  ·  Archiv  ·  RSS  ·  Newsletter

Ulrich Alexander Boschwitz

Menschen neben dem Leben

Buchcover

Ich liebe Bücher, in denen mir die geschilderten Menschen nahe kommen, seien sie auch aus einer ganz anderen Zeit, arm oder reich, mächtig oder ausgegrenzt, widersprüchlich oder gewöhnlich (scheinbar). Dann passiert für mich das, was ich das kleine Wunder des Lesens nenne. Ein Wunder, das wirkte, als ich Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz las.

Der wiederentdeckte Roman eines vergessenen jungen Schriftstellers spielt Ende der 1930er Jahre in Berlin. Die Wirtschaftskrise ist im vollem Gang und trifft vor allem die Mittellosen sehr hart. So sind die Protagonisten dieses Debüt-Romans sozial Deklassierte, Obdachlose, Kleinganoven, Verwirrte und Gestrandete. Wie mittendrin erleben wir ihre großen und kleinen Sorgen, ihre Hoffnungen, ihre Verlorenheit und ihre Niedertracht im täglichen Kampf um das Überleben auf der Straße.

Ich bewundere Ulrich Alexander Boschwitz für sein aussergewöhnliches Einfühlungsvermögen und das psychologisches Gespür, das seine Figuren so glaubwürdig und lebendig macht. Aber die Menschen werden in diesem Roman nicht nackt gemacht. Stattdessen tauchen wir in eine spannende Handlung ein, die uns zu einem Finale führt, das ganz nah bei den Protagonisten bleibt, die alles andere als "neben dem Leben" stehen. Nur selten gibt der Autor Hinweise und Andeutungen auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Wie nieder und gemein, feige und hinterhältig die Protagonisten ihren Kampf um etwas Nahrung, Unterkunft und ein wenig Anerkennung auch führen, Ulrich Alexander Boschwitz bezieht immer die Kränkung dahinter mit ein (ohne sie ausdrücklich zu benennen). Er verurteilt nie. Er schreibt mit Anti-Dünkel im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Sozialromantik und Verklärung. Und zugleich wird in der sich zuspitzenden Handlung wie von selbst und glaubwürdig auch Hoffnung und Optimismus sichtbar, trotz aller Aussichts- und Ausweglosigkeit. So finden sich am Ende des Romans zwei Menschen aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen. Sie spüren, dass sie gemeinsam eine Chance haben auf ein würdiges Leben. Zwei junge Menschen, die die Möglichkeiten der Großstadtluft und ihrer eigenen Talente  spüren. Das Leben geht weiter.

Was für ein Autor: Ulrich Alexander Boschwitz, der endlich wiederentdeckt wurde und der im Alter von 27 Jahren auf einem Schiff starb, das ihn 1942 aus der australischen Verbannung zurück nach England bringen sollte. Unglücklicherweise wurde es torpediert und sank. Ein Stolperstein in Berlin-Schmargendorf erinnert an seine Flucht vor den Nationalsozialisten und seinen tragischen Tod. Menschen neben dem Leben erschien erstmalig 1937 auf schwedisch (Människor utanför).

Ralph Segert ° 13. Mai 2020 ° Rubrik Moderne Klassiker