Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Lutz Seiler

Stern 111

Buchcover

Zufällig hörte ich im Auto auf WDR 5 ein Interview mit Lutz Seiler. Der Interviewer stellte manche oberflächliche Frage über den Roman Stern 111 und Lutz Seilers souveräne Antworten machten mich neugierig auf das Buch.

Die Rahmenhandlung in Stern 111 ist schnell erzählt. Ein nicht mehr junges Ehepaar aus Gera wandert kurz vor der Grenzöffnung in den Westen aus und läßt ihren erwachsenen Sohn Carl zurück. Der fährt Hals über Kopf nach Berlin und durchlebt eine Selbstfindung (weit entfernt von der heutigen Geißel der Selbstoptimierung), eine Selbstfindung, die nicht einem nützlichen Wollen unterliegt, sondern bestimmt wird durch Begegnungen mit verschiedensten Menschen, die kurz nach der Grenzöffnung im Prenzlauer Berg auf dem Weg in eine frei gestaltbare Zukunft sind, an die sie mehr oder weniger glauben und für die sie etwas wagen.

Das "kluge Rudel" um Carl lebt widerständig, renitent, nicht einsortierbar. Es nutzt die freie Luft zwischen der Auflösung des Ostens und der Vereinahmung durch den Westen, klug und chaotisch, organisiert und pragmatisch, mit Sinn für Kunst und solides Handwerk. Carl verliert sich immer wieder zwischen den Schluchten und Hinterhöfen der alten Häuser, zwischen Lebenskünstlern und Guerillakämpfern, zwischen Ureinwohnern des Viertels und Offizieren der Sowjetunion. Letztere sympathisieren mit den bunten Eroberern der vergessenen Häuser und schätzen Carls Dichtkunst.

Mit Carl tauchen wir ein in diese faszinierende Zeit des Neubeginns und des gewagten Wollens jenseits der nivellierenden Konkurrenzgesellschaft, die den Vorteil für Wenige zum Nachteil Vieler macht. Zum Ende des Romans deutet sich die Zersetzung dieser immer (trotz aller Unterschiede und Konflikte) solidarischen Gemeinschaft an, während Carl sich seinem Viertel zwischen Ryke- und Linienstraße, zwischen eroberten Häusern und der Kellerkneipe "Assel" zunehmend entfremdet, auch um sich wieder seinen Eltern anzunähern, die in der Zwischenzeit in Los Angeles einen Platz zum Leben gefunden haben.

Stern 111 ist ein sehr atmosphärischer Roman und immer wieder beglückte mich auch der Lyriker Lutz Seiler, wenn zum Beispiel die Beziehung zwischen Carl und seinem Vater in scheinbar beiläufig eingestreuten Sätzen verdichtet wird zu einem poetischen Realismus, der mich immer wieder mal aus heiterem Himmel begeisterte. Und die letzten hundert Seiten haben mich auf sonderbare Weise berührt. Als Carl taub und krank im Bett liegt, wird er von seinem "Rudel" gesund gepflegt. Echte Sorge und Anteilnahme flatterten dann zwischen Zeilen in mein Gemüt herüber und erinnerten mich schmerzhaft an einen Verlust, an die unerfüllte und allmächtige Sehnsucht eines Kindes nach Geborgenheit und Schutz.

Für Carl markiert die Krankheit den Wendepunkt in seinem Leben. Die Taubheit zwingt ihn, genauer hinzuschauen, hindert ihn am Weglaufen, führt ihn zu den richtigen Schlüssen, die er bereit ist, zu ziehen; als Mensch, Dichter und als Liebender, der gescheitert ist. Am Ende schloss ich dankbar und berührt das Buch und nahm wahrhaftige Sätze mit in mein eigenes Leben. Sätze wie diese:

"Offensichtlich gibt es diese Treue, die tiefer wohnt, nah bei den Wurzeln und jenseits jener Gefühle, die unsere Entscheidungen beherrschen - eine Verbundenheit, die fortbesteht, kaum zu erklären. Ihre Unantastbarkeit (und Kostbarkeit) gründet darauf, dass die Dinge uns geschehen sind."

Ralph Segert ° 01. Mai 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur