Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Andreas Fischer

Die Königin von Troisdorf

Illustratives Bild

Andreas Fischer hat einen längst überfälligen Roman geschrieben, der mehr als ein "Kriegsenkelroman" ist: "Die Königin von Troisdorf. Wie der Endsieg ausblieb".

Bereits der erste Blick auf das Titelbild des Buches weckte ambivalente Empfindungen. Einerseits lag Vertrautes in dem Foto, andererseits stieß es mich ab. Vertraut die Farbanmutung, die Art und Weise, Kinder und Erwachsene hinzustellen, steif und ernst, dann die Kleidung und der Haarschnitt des Jungen, zudem der Blick der Oma. So wie sie steht und auf den Jungen schaut, erinnert sie mich an die Strenge und Verächtlichkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern in den sechziger und siebziger Jahren, zudem an die trostlose Langeweile, die von ihnen ausging, das Befremden, mit dem sie mich abstießen. Das Foto nimmt als Titelbild symbiotisch vorweg, was der Roman erzählen wird.

Die Ambivalenz, mit der ich das Titelbild wahrnahm, setzte sich beim Lesen des Romans fort. Der Autor Andreas Fischer offenbart sein Leben als Einzelkind in den sechziger und siebziger Jahren. Er wächst auf in einer Familie mit Oma, Vater und Mutter, die als junge Menschen die Folgen zweier Weltkriege tragen mussten und die für die Verluste und Traumata, die sie erlitten hatten, nie ein mitfühlendes Wort für sich selbst fanden. Stattdessen arbeiten die Eltern von früh bis spät und führen ein erfolgreiches Fotogeschäft. Um den Jungen kümmern sich die Oma, die im gleichen Haushalt lebt und eine Tante und ein Onkel, die keine Kinder kriegen können. In sprunghaften Zeitwechseln werden Situationen der Demütigung, Abwertung und Beschämung des Kindes geschildert. Für das Leid des Kindes sorgen vorwiegend die Mutter und die Oma, während der Vater sich ohne Schamgefühle oft betrunken gehen läßt, zugleich aber, neben der Tante, der einzige ist, der ab und zu, je nach Laune, auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes eingeht.

Unterbrochen sind die kompakt erzählten Szenen aus dem Leben der Familie durch Dokumente wie Bilder und Briefe aus dem Generationenumfeld der Oma. Sie verweisen exemplarisch und unaufdringlich darauf, dass die Verhärtung und Kontrollsucht der Oma (und nicht nur ihrer) auf die schwerwiegenden Verluste geliebter Menschen in den Weltkriegen zurückzuführen sind, aber auch darauf, dass die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Zweiten eine Härte gegen sich selbst einforderte und jede moralische Verfehlung mit Verachtung und Strafe vergalt. Man nahm das Leid hin, verschwieg es, redete es klein, wie die Oma, die den Verlust ihres geliebten Sohnes nicht betrauern durfte und wollte und stattdessen in Wut und Verachtung umwandelte, die ohne jede Hemmung auf ihren Enkel abgeladen werden. Ihr eigener Sohn fiel im Zweiten Weltkrieg, noch bevor er an die Front kam, was er sich in den Briefen an die Mutter sehnlichst wünschte.

In den zahlreichen spannungssteigernden Zeitsprüngen zwischen den Jahren der Kindheit, Jugend und dem Erwachsensein schildert Andreas Fischer die seelischen Verwerfungen eines bedingungslos geforderten Gehorsams, einer Härte gegen sich selbst, die in einer Gewalt durch Sprache zum Ausdruck kommt, die nicht davor halt macht, den Jungen als ein „verkommenes Dreckstück“ (die Mutter) und als „Drecksack“ (die Tante) zu beschimpfen sowie ihn als siebenjähriges Kind, das grad von einer Krankheit genesen war, zu sagen: „Wenn dem Papa jetzt was passiert, dann bist DU schuld!“ Dabei hatte der Junge nichts anderes getan, als den zufällig schlecht gelaunten Vater nach den Kastanien zu fragen, die er sich sehnlichst für Bastelideen gewünscht und die der Vater versprochen hatte. Allein die Frage des Kindes läßt den Vater wütend werden. Er brüllt den Jungen an und verläßt die Wohnung. Die Mutter spricht den Jungen kategorisch schuldig.

Mit den in 10 Jahren abgerungenen Erinnerungen (so der Autor in einem Gespräch) ging mir der Roman schnell durch Mark und Bein. Ich sah mich oft schmerzhaft an meine eigene Kindheit erinnert. Da war vor allem die frühe Szene des gewaltsamen Waschens des vierjährigen Jungen. Die Mutter, sie muss früh ins Geschäft, reißt ihm in wütender Ungeduld beim Ausziehen des Unterhemdes einen Milchzahn heraus. Ihr fällt danach nichts besseres ein, als das blutende Kind mit Tüchern ins Bett zu legen. Später kommt die Oma in das Zimmer, in dem der Junge „zusammengekrümmt unter der Decke” liegt und sich „die verweinten Augen” reibt. Sie „sieht voller Verachtung” auf das Kind herab und sagt: „Dass du deine Mutter auch so in Wut bringst. Pfui. Schäm dich!”

An dem Tag konnte ich nicht mehr weiterlesen. Zuerst erstarrte ich, dann brach sich ein alter Schmerz in mir Bahn. Diese Szene steht für nicht wenige Demütigungen in meiner Kindheit und den Kindheiten meiner Generation (wie der Autor bin ich 1961 geboren). Zugleich war und bin ich dem Autor dankbar. Endlich ist da ein Buch, das mir lange gefehlt hat, das ich selbst hätte schreiben wollen. Paradoxerweise wurde mir der Roman trotz der schmerzhaften Erinnerungen, die er in mir wach rief, mit jeder Seite vertrauter: Es war, als würde ein Stück Heimat, ein Stück Zeitatmosphäre, die ich tief eingeatmet hatte, erneut lebendig werden. Dass ich das Buch so ambivalent erlebe, liegt an der Kunst des Autors, keine seiner Figuren zu denunzieren oder vorzuführen. Stattdessen begreift er sie in ihrer Widersprüchlichkeit, läßt ihren Träumen, ihr Bereuen, ihrer Verzweiflung, ihre abgrundtiefe Hilflosigkeit gegenüber Trauer und Schwäche aufblitzen; nur aufblitzen, wodurch sie umso eindringlicher auf uns wirken. Am Ende bleiben traurige Menschen, die in ihrer Sprachlosigkeit nie einen Weg zu ihren eigenen Schmerzen gefunden haben. Sie verharrten im kaltherzigen Geist des NS-Regimes, die Befreiung war für sie nur eine Niederlage. Unaufhörlich übertrugen sie im Wirtschaftswunderland ihr eigenes Erbe der gefühlsverkümmerten Seele auf ihre Kinder.

Am Ende der letzten Seite spürte ich ein Bedauern, nicht weiter lesen zu können. Der Roman rang mir einen Abschied ab. Und Bewunderung für Andreas Fischer. Als Buch wäre der Text wohl nie erschienen, wenn der Autor nicht selbst einen Verlag dafür gegründet hätte. Ein mutiger Schritt, ein so wichtiger Schritt. Die Königin von Troisdorf macht uns unser seelisches und mentales Erbe auf eine Weise bewusst, die keine Kompromisse an Wohlfühlbedürfnisse und zeitgeistige Lesegewohnheiten macht, ausser, dass es ausgesprochen gut lesbar, ja, auch unterhaltsam ist, ohne je auf ein Klischee, auf Sentimentalität oder Vereinfachung zurückzugreifen. Der Roman verweist radikal auf unser Erbe der seelischen Verletzungen, die nach wie vor wirkmächtig sind und als Gift in die Konflikte der Zeit sickern. Auch dafür sensibilisiert Andreas Fischer. Das tut er eindrucksvoll, sensibel und mit einem bewundernswerten Mut.

Ralph Segert ° 15. Mai 2023 ° Rubrik Gegenwartsliteratur