Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

Home  ·  Projekt  ·  Sideblog  ·  Archiv  ·  RSS  ·  Newsletter

William Melvin Kelley

Ein anderer Takt

Illustratives Bild

Rassismus wird in dem Roman Ein anderer Takt als ein unsichtbares und zähes Geflecht sichtbar, das bis in die kleinsten Verästelungen des Fühlens und Denkens eingedrungen ist und selbst in Freundschaften wirkt, die die Rassengrenzen zu überwinden suchen.  Auf 268 Seiten fegte William Melvin Kelley all das, was sich in meinem Kopf an Gut-und-Böse-Naivität eingenistet hatte, hinweg. Nicht allein der Hass zementiert den Rassismus und die Machtverhältnisse, auch der Anpassungsdruck, der fehlende Mut, sich zu positionieren, auch die Angst vor Annäherung, die Furcht vor Ausgrenzung aus der eigenen Kaste. Subtil positioniert man sich, auch wenn man nicht hasst und nichts gegen Schwarze hat. Das Befremden bleibt, auf beiden Seiten. Jeder ist verstrickt, doch die Opfer sind die Schwarzen, die früher gelyncht und heute hinterrücks erschossen werden. Daran läßt Ein anderer Takt keinen Zweifel. Und wünschten wir uns als Leser auch sehr die Hände der Versöhnung, zeigt die brutale Szenerie eines Lynchmordes im letzten Kapitel des Buches, was es bedeutet, unentrinnbar einer entmenschlichten Gewalt ausgeliefert zu sein. Ohne Illusion und in einer erschreckenden Klarheit beschreibt William Melvin Kelley den Blick der Gewalt, ein Blick, “der verriet, dass der Mechanismus, der den Menschen zum Menschen macht, ausgeschaltet war”. Mit ähnlicher Intensität hat auch James Baldwin in Beale Street Blues den Blick eines sexualisierten rassistischen Polizisten geschildert. Eine abgrundtiefe Leere in der Seele rettet sich allein in Hass und Gewalt, das ist eine Erkenntnis beider Romane. Aus einem beeindruckenden Einfühlungsvermögen verdichtet William Melvin Kelley mit sezierender Sprache, die an Gustave Flaubert erinnert, die Tragödie des Rassismus exemplarisch anhand einer kleinen Stadt in den USA der 50er Jahre.  

Ein anderer Takt ist bereits 1962 erschienenen. Erst 2019 wurde eine deutsche Übersetzung veröffentlicht, wofür dem Verlag Hoffmann und Campe nicht oft genug zu danken ist, auch für die Beauftragung einer kongenialen Übersetzung von Dirk van Gunsteren.  — Ein anderer Takt bei Hoffmann und Campe.

Ralph Segert ° 21. März 2021 ° Rubrik Moderne Klassiker