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Abbas Khider

Palast der Miserablen

Buchcover

Selten hing mir ein Roman auch mehrere Tage nach dem Lesen so nach wie Palast der Miserablen von Abbas Khider. Als hätte ich eine Familie aus einem fernen Land kennengelernt, die mir ans Herz gewachsen und für immer zu verlassen sei. So fühlte sich das nach dem Lesen an. Dieser außergewöhnliche Roman hat mich sehr berührt, sehr unterhalten und sehr nachdenklich gemacht.

Palast der Miserablen zeigt uns den Irak in einer Zeit, in der Saddam Hussein regiert und ein Krieg nach dem anderen das Land überzieht. Die Handlung setzt ein, als der Irak-Iran-Krieg beendet und ein nationaler Aufstand niedergeschlagen war. In dieser Zeit beschließt eine bäuerliche Familie aus dem Süd-Irak, nahe der iranischen Grenze, nach Bagdad zu ziehen. Sie möchte bei erneuten Aufständen nicht zwischen die Fronten geraten und erhofft sich in der Hauptstadt ein neues Leben. Kommt die vierköpfige Familien zuerst noch bei Verwandten unter, so muss sie bald in das Blechviertel ziehen. Das Blechviertel ist eine wildwuchernde Siedlung am Rande von Bagdad, ein Slum ohne befestigte Straßen, Strom und fliessendes Wasser, gelegen neben einer großen Müllkippe, die die Lebensgrundlage der Bewohner ist. Die Familie muss ohne ein Dach über dem Kopf ganz von vorne anfangen. Chams Hussein, der Ich-Erzähler, taucht so mit seinen Eltern und seiner eigenwilligen Schwester Qamer in die fremde Welt des großstädtischen Überlebens und Lebens ein. Mit Mut und Geschick, mit Kreativität und Ausdauer erarbeitet sich die Familie ein Auskommen und gewinnt Achtung und Respekt in dem stetig wachsenden Viertel. Doch die direkten und indirekten Folgen der Kriege werfen die Familien im Blechviertel immer wieder zurück, machen sie ärmer und verzweifelter.

Für den aufgeweckten Jungen Chams ist das Leben in Bagdad entsprechend hart und zugleich ein stetiges Abenteuer. Seine geliebte, kluge und selbstbewusste Schwester ist ihm lange ein Vorbild und gibt ihm emotionalen Halt. Als er seine Liebe zu Büchern entdeckt, tun sich für ihn ganz neue Türen auf. Er bekommt einen begehrten Job als Bücherverkäufer auf einen Flohmarkt für kopierte Bücher. Er lernt darüber einen Kreis aufklärerisch gesinnter Menschen kennen. Und trotz der harten Arbeit, die er für das Auskommen der Familie leisten muss, schafft er den Sprung auf die kostenfreie Universität. So entdeckt er eine neue Welt, die verstörende Welt des Wohlstands und des Konsums mitten in der Zeit des internationen Embargos, eine soziale Welt, die ihn einschüchtert und fremd bleibt. Zugleich wird er in den Verkauf illegaler und sehr begehrter Schriften hineingezogen, ohne sich radikalisieren zu wollen. Aber der Verkauf bringt gutes Geld. Diese Aktivitäten werden ihm später zum Verhängnis.

Abbas Khider gelingt mit diesem Roman das Meisterstück, uns die ganze Widersprüchlichkeit der irakischen Gesellschaft aus der Sicht eines einfachen Jungen zu schildern, der in Kriegszeiten zum Jugendlichen heranwächst. In einer Sprache, die uns leichtfüssig und humorvoll am Leben der Miserablen teilnehmen läßt, in einer Sprache, die trotz oder gerade wegen ihrer Leichtigkeit die Folgen konkret macht, die der "Krieg für Öl" und "gegen den Terror" für die einfachen Menschen hatte und bis heute hat. Mich erinnerte der Roman sehr schnell an den Zweiten Golfkrieg von 1991. Ich war damals gegen diese Invasion, genauso wie ich gegen den darauffolgenden Dritten Golfkrieg und den Angriff auf Afghanistan war; und war in der Minderheit. Mit Entsetzen und Zorn hatte ich damals das deutsche Fernsehen als verlängerten Arm der militärischen Propaganda der USA wahrgenommen, als wären die feigen Bombardements ohne Rücksicht auf Verluste ein schicksalhaftes Videospiel. Jahre später kolportierten dieselben Medien die Lüge von den Massenvernichtungswaffen, um den "Präventivkrieg" der "Koalition der Willigen" und die bis heute nicht geahndeten Kriegsverbrechen zu rechtfertigen.

Was solche Kriege, die die riesigen Rüstungsapparate der westlichen und östlichen Welt nähren, für die Menschen bedeuten, daran erinnern uns Chams Familie und das Blechviertel. Und somit verweist beides aus humanistischer Perspektive auf die historische Verantwortung des Westens, der die Saat für die vielen Kriege und die Instabilität in der Region bereits mit Beendigung des Ersten Weltkriegs durch willkürliche Grenzziehungen legte. Der Roman zeigt zudem zwischen den Zeilen, dass ein Wirtschaftsembargo vor allem die Ärmsten und die Schutzlosen trifft, während sich die korrupten Machthaber noch im ärgsten Elend an ihrem eigenen Volk bereichern. Bitte nicht missverstehen, Abbas Khider politisiert an keiner Stelle, stattdessen schaut er dem Volk im besten Sinne aufs Maul. Abbas Khider bleibt auf der Ebene des neugierigen Jungen aus dem Blechviertel, der seinen Wunsch nach Auskommen und Würde mit Gefängnis und Folter bezahlen muss.

Für mich ist dieser Roman ein kleines Wunder, ein Hoffnungszeichen. Auch Abbas Khider war im Gefängnis und wurde gefoltert. Nach seiner Flucht aus dem Irak schlug er sich einige Jahre als Flüchtling in Libyen und in Europa durch. Er vollbrachte die bewundernswerte Leistung, sich in Deutschland als Schriftsteller zu etablieren. So bringt er die Kriege und die Folgen für seine leidgeprüften Landsleuten zurück in unser Bewusstsein, wie ein Botschafter all der Länder, die bis heute unter den Folgen der Angriffs- und Stellvertreterkriege leiden. Und zugleich werden die Flüchtlinge, die die EU ohne humanes Gewissen an den europäischen Grenzen abweist, wieder zu Menschen. Menschen, die eine Heimat hatten, diese Heimat liebten und durch Krieg und Verfolgung zur Flucht gezwungen wurden.

Palast der Miserablen ist ein neuer Roman zur Völkerverständigung, ein Roman für den Unterricht, ein Roman, dem ich weiteste Verbreitung wünsche.

Ralph Segert ° 24. April 2020 ° Rubrik Gegenwartsliteratur