Ratatatam - Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart

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Ralph Segert

Wenn das Schreiben sich vom Ich entfernt

Für die Teilnahme am Literaturpreis Ruhr 2022 (Nachwuchspreis) hatte ich die Erzählung Sonnenburg in meinem Schreibprojekt Wandelkern veröffentlicht. Nun hat sich eine Gelegenheit ergeben, sie gründlich zu überarbeiten, nach dem der Schriftsteller Martin Lechner mir konstruktive Anmerkungen geschickt hatte, die mich begeisterten und motivierten. Was soll ich sagen: Die Geschichte hat nicht nur gewonnen, mir ist auch klar geworden, dass ich mich als Schreibender in den letzten 2 Jahren entwickelt habe. Ich möchte das folgend anhand einiger Satzvergleiche erläutern.  Bitte folgen Sie mir:

Foto: Ralph Segert — Indianer der Siedlung greifen an (1981)

Im folgenden wurde die Wendung "Lug und Trug" als abgegriffen erkannt, was dem Satz die Spannung nimmt:

Vor dem Umzug malte meine Mutter uns die Siedlung schön und versuchte unsere Einwände zu entkräften. Meine Enttäuschung hielt sich in Grenzen, als sich der versprochene Abenteuerspielplatz und die Kettcars für Kinder als Lug und Trug herausstellten.

Das leuchtete mir ein. Ich schrieb den Abschnitt um. Als ich zufrieden war, was dauerte, wurde mir klar, dass mir die Andeutung viel mehr bedeutet als vor 2 Jahren noch. In "Lug und Trug" klingt noch die Anklage des Erwachsenen mit, der auf seine Kindheit blickt. Ich aber möchte als Autor-Ich in den Hintergrund treten, im besten Fall denkt niemand beim Lesen an das Wort Autobiografie. Stattdessen möchte ich den Leser mit atmosphärischen Bildern verführen und berühren, was mich als Autor vergessen macht.

Vor dem Umzug malte meine Mutter uns die Siedlung schön und entzündete unsere so leicht entflammbare Neugier. Meine Enttäuschung hielt sich dann in Grenzen, als sich der versprochene Abenteuerspielplatz und die Kettcars als unauffindbar herausstellten.

Die Formulierung als unaufindbar herausstellen folgt weder einer Wertung, noch klagt sie an. So eröffnet das Ende des Satzes mit sanfter Ironie einen Raum, der im Kopf des Lesers die Vorstellungskraft anstubst. Martin Lechner hat in dem Interview Der Spielraum eines Satzes an einer Stelle geschrieben, dass es darum ginge, "wie kräftig ein Ausdruck die Vorstellungskraft kitzelt".

In dem folgenden Absatz wurde auf die ewigen "haltlosen Tränen" hingewiesen und der letzte Satz als "seicht" entlarvt:

Mir blieb nichts anderes übrig, als in die neue Grundschule zu gehen. Ich weiß noch, wie ich schüchtern vor der neuen Klasse stand und mich schämte, als ich sagen sollte, wo ich wohne. Schnell stellte sich heraus, dass die neue Klasse im Stoff viel weiter war als ich. So begannen die letzten Monate in der vierten Klasse mit Verzweiflung, die wenige Tage später in haltlosen Tränen mündete. Wie überrascht ich sogleich über das betretene Schweigen in der Klasse war, erwartete ich doch Spott und Häme! Wie gut mir ihr Angebot der Hilfe tat! Ich spürte Mitgefühl, das mich wie ein warmer Wind auf fernen Inseln umgab, zu denen ich manchmal mit freundlicher Unterstützung meiner Phantasie hinsegelte.

Dieser Schluß des Absatzes störte mich schon länger, aber eine gewisse Faulheit, Ideenlosigkeit und später das Vergessen ließen mich darüber hinwegsehen. Und nun ist daraus nicht nur ein kürzerer und prägnanter Absatz geworden, sondern auch ein Absatz mit poetischen Anklängen, die näher als zuvor an die Nöte des Protagonisten heranführen, mit einer Verdichtung durch den letzten Satz mit vier Wörtern.

Schneller als mir lieb war, stand ich am ersten Tag schüchtern vor der Klasse und schämte mich, weil mir der Straßenname auf Anhieb nicht gelingen wollte. Schnell stellte sich heraus, dass meine neuen Mitschüler im Stoff viel weiter waren als ich. So begannen die letzten Monate in der vierten Klasse mit zehrender Angst. Und einmal, als alles vergessen schien, was ich schon gewusst hatte, kamen alle ersparten Tränen aus mir heraus. Ungläubig nahm ich das betretene Schweigen wahr, wo ich doch Spott und Häme erwartete. Die Lehrerin lobte mich für meine Tränen und ihre Klasse für die Hilfsbereitschaft, die ich jederzeit in Anspruch nehmen könne. Das war mir neu.

Zu dem nun folgenden Absatz wurde eine Skizzenhaftigkeit angemerkt, die zu viele Fragen offen ließe. Auch das fand ich als Kritik sehr hilfreich.

Leid. Meine Mutter liegt auf dem Boden. Sie wusste nicht mehr weiter. Wir lachen, durchschauen das Schauspiel und steigen über sie hinweg. Mitgefühl gibt es nicht, vielleicht nur entfernt, uneingestanden. Es hallen böse Worte nach. Auch leise Zweifel erinnere ich: Vielleicht ist sie wirklich tot? Aber sie blieb nicht lange liegen.

Kommt hier nicht zudem die Mutter so wenig in den Blick, als wäre sie nur ein Requisit in einem Schauspiel? Meine Antwort darauf war folgende Überarbeitung:

Nicht selten, wenn in der Küche das Schreien meiner Mutter gegen das Chaos unberechenbarer Kinder keinen Widerhall mehr fand, fiel sie in eine erschöpfte Ohnmacht und stellte sich tot. Mit angewinkelten Beinen und ihrem ewigen Kittel lag sie auf dem PVC-Boden, ihr Gesicht verborgen unter einem Arm. Manchmal lachten wir und stiegen über sie hinweg. Sie markiert doch nur! sagte ich einmal und einer meiner Brüder lachte, während der Kleinste im Türrahmen stand und vergessen weinte.

Der Absatz hat mit dem Blick auf die Mutter aus der Sicht meines Sprachgefühls gewonnen. Er hat einen guten Rhythmus und läßt sich entsprechend flüssig vorlesen. Ich lese mir meine Sätze immer laut vor, und wenn es dabei auch nur ein wenig stockt, meine ich, dass der Rhythmus nicht stimmt. 

Folgend noch die überarbeitete Version von Sonnenburg. Ich freue mich über jede Anmerkung. :)

Foto: Ralph Segert — Pölen im Affenkäfig (1980)
Foto: Ralph Segert — Pölen im Affenkäfig (1980)

Ralph Segert ° 24. Januar 2024 ° Rubrik Erzählungen